Titel
Text zu Land. Palästina im wissenschaftlichen Diskurs 1865-1920


Autor(en)
Kirchhoff, Markus
Reihe
Schriften des Simon-Dubnow-Instituts 5
Erschienen
Göttingen 2005: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
425 S.
Preis
€ 48,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jens Flemming, Universität Kassel

Beginnen wir mit zwei Streiflichtern, die einen Teil der Nachgeschichte beleuchten, der jüdischen Rezeption dessen, worüber Markus Kirchhoff schreibt. „Bis vor dem Kriege war uns Palästina das, was dem Kind sein liebstes Spielzeug ist“, heißt es im April 1919 in einem Artikel: „Wir liebten es, wir sprachen immerzu davon und wollten mit ihm zusammen sein; aber wir haben seine Probleme, Ängste und Nöte nie so fürchterlich ernst genommen, denn es schien uns als reales jüdisches Palästina, als Erez Israel in so weiter Ferner, daß wir es nur liebkosten, ohne es in seiner wahren Natur zu erkennen.“ Heute indes, nach der Balfour Deklaration von 1917, spinnt der Autor den Faden fort, sei die Lage völlig anders, sei man konfrontiert mit der „Araberfrage“, mit der Notwendigkeit, ein möglichst reibungsloses Zusammenleben zwischen den jüdischen Einwanderern und der indigenen muslimischen Bevölkerung zu organisieren: orientiert am gemeinsamen Nutzen, auf bikultureller Grundlage, getragen von gegenseitigem Respekt, jenseits von „nationalem Chauvinismus“. 1 Geschrieben hat diese Sätze Hans Kohn, ein Zionist, Jahrgang 1891 und vor kurzem erst aus russischer Kriegsgefangenschaft heimgekehrt, ein Angehöriger der postassimilatorischen Generation, Mitglied der Studentenvereinigung Bar-Kochba in Prag, der 1934 ein vielbeachtetes Buch über die „Europäisierung“ des Nahen Ostens veröffentlichen sollte, eine Studie, die dem Topos vom „lethargischen“ und „ewig gleichen“ Orient energisch zu Leibe rückte, von Prozessen eines raschen Wandels dort und den Anstößen der modernen westlichen Zivilisation handelte. 2

Ein paar Jahre später: ein Eintrag im jüdischen Lexikon von 1927, das die Ergebnisse archäologischer Forschungen in Palästina würdigt. Am Schluss findet sich ein Resümee, erkennbar geprägt vom Stolz über jahrhundertelange Selbstbehauptung, auch vom Bedürfnis nach historisch beglaubigter Identität in einem erst noch zu gewinnenden Raum. Die Ausgrabungen und Funde würden zeigen, lesen wir, „daß das jüdische Volk, seine Kultur und seine Geschichte von Anfang an mitten in das Leben des vorderen Orients hineingestellt waren. Auf allen Gebieten sind Abhängigkeiten zu erkennen, am stärksten in der bildenden Kunst, schwächer in der Literatur, am geringsten in der Religion. In Palästina sind sich zu allen Zeiten die verschiedensten Kulturen begegnet, und jede von ihnen hat auf das jüdische Volk gewirkt. Trotzdem ist es diesem gelungen, die Einflüsse von außen in sich aufzunehmen und zu eigener Schöpfung zu verarbeiten, in der es bisweilen hinter seinen Vorbildern zurückblieb, auf manchen Gebieten aber sie übertraf und rückwirkend ihr Lehrer wurde“. 3

Kein Zweifel, Palästina rückt in den 1920er-Jahren näher in das europäische Bewusstsein: in das der Juden wie der Nichtjuden. Das hat viel mit den geopolitischen Konstellationen und Interessen der Großmächte nach dem Ersten Weltkrieg zu tun. Zu den Voraussetzungen aber gehört nicht zuletzt, dass sich der Kenntnisstand über das Territorium zwischen Golan und Elath enorm verbreitert hat. Seit der Jahrhundertwende steigt die Zahl der Reiseberichte kontinuierlich an, ebenso die der wissenschaftlichen Publikationen. Palästinakunde lautet hier der Begriff, unter dessen Dach sich die verschiedenen Disziplinen versammeln: Geografie, Geschichts- und historische Bibelwissenschaft, Ethnologie und Altertumswissenschaften. Beteiligt an der Vermessung des Landes sind verschiedene, durch staatliche, kirchliche und private Gelder geförderte Institutionen und Gesellschaften, allen voran der britische „Palestine Exploration Fund“ und der deutsche „Palästina-Verein“: ein ganzer Kosmos von Institutionen und Gesellschaften, Gelehrten und Expeditionen, den Markus Kirchhoff in seiner mit Details gesättigten Studie rekonstruiert. Sie geht den verschiedenen, in diesem Feld geführten Diskursen nach, analysiert deren Prämissen und Konsequenzen, Verästelungen und Interferenzen, vergegenwärtigt die darin zum Ausdruck kommenden Interessen- und Werthorizonte. Im Zentrum des Buches steht, hebt der Autor hervor, eine anfangs stark protestantisch gefärbte und motivierte „Bewegung“, die eine „mentale, sakrale Geographie in einen wissenschaftlich verorteten Raum“ überführt: „Dieser Raum war“ am Ende der untersuchten Periode, also zu Beginn der 1920er-Jahre, „archäologisch, topographisch und ethnographisch ergründet, trigonometrisch vermessen und kartographisch verzeichnet“ (S. 389).

Dies wird in acht großen Kapiteln systematisch entfaltet. Zunächst geht es um „Athen“ und „Jerusalem“, um die Wiederentendeckung Palästinas seit den 1830er-Jahren analog zu der Griechenlands in den Jahrzehnten zuvor, um diplomatische Aktivitäten im Rahmen der „Orientalischen Frage“, auch schon um erste Pläne, Palästina als „christliches Fürstentum“ aus osmanischer Herrschaft zu lösen, so jedenfalls 1841 ein Vorschlag des älteren Moltke, des späteren preußischen Generalstabschefs. Als nächstes lenkt der Verfasser den Blick auf Palästina als „Mnemotop“, auf das „Heilige Land und das christliche kulturelle Gedächtnis“, dabei inspiriert von Maurice Halbwachs, dessen Arbeiten in der neueren Erinnerungshistorie nicht selten als Referenztexte, als Klassiker gehandelt werden. 4 Es folgt ein Abschnitt über die „Institutionalisierung der Forschung“ im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, für deutsche Leser/innen besonders interessant die Gründung und Entwicklung des „Palestine Exploration Fund“, dessen Antriebskräfte, wie Kirchhoff vermerkt, in der gedachten „Identität von biblischem und britischem Volk“ wurzelten, in der Aktualisierung einer „alten nationalen Mythologie, die aus einer Verschmelzung von Figuren aus altsächsischen, griechischen und jüdischen Legenden hervorgegangen war und aufgrund derer sich England schon im Mittelalter als ‚praesens Israel’ verstehen konnte“ (S. 152f.). Es folgen drei Kapitel über die Aktivitäten und den Stellenwert der Befunde von Archäologen, Geografen und Ethnografen. Sodann werden die Wege abgeschritten, auf denen jüdische Organisationen sich die Erkenntnisse der Palästinaforschungen anverwandelt haben. Auffallend ist, dass diese sich erst vergleichsweise spät daran beteiligt haben: trotz der im 19. Jahrhundert etablierten „Wissenschaft vom Judentum“, trotz der später sich artikulierenden Interessen des Zionismus und trotz eines 1910 vor der „Gesellschaft für Palästina-Forschung“ formulierten Appells, man dürfe es „nicht anderen überlassen, die Bedeutung des Namens Israel für die Kulturwelt zu bestimmen“ (S. 19). Den Abschluss markieren Analysen, die danach fragen, wie aus „historischer“ so etwas wie „politische“ Geografie wurde. Im Vordergrund steht hier das Verhältnis von Palästinawissenschaft und Palästinapolitik vornehmlich nach dem Ersten Weltkrieg. Dabei wird deutlich, wie sehr der britische Premier Lloyd George sich in den Verhandlungen mit Frankreich von den Bildern und Überlieferungen einer palästinakundlichen Pädagogik leiten ließ, die er in seiner Kindheit genossen hatte: auch und nicht zuletzt, um französische Gebietsansprüche abzuwehren und das eigene Begehren nach einem Völkerbundsmandat über Palästina zu untermauern.

Kirchhoffs Studien leben von weiten Bögen, fußen auf soliden empirischen Fundamenten, beginnen mit der Gründung des „Palestine Exploration Fund“ im Jahr 1865, ohne darüber freilich die Vorgeschichten auszublenden, und enden 1920 mit der Konferenz von San Remo, auf der entschieden wurde, die Balfour Deklaration in den Friedensvertrag mit der Türkei zu inkorporieren und dem Vereinigten Königreich das Mandat über Palästina zu übertragen. Unter Nutzung von diskursanalytischen Verfahren, auch inspiriert von systemtheoretischen Erwägungen, gelingen dem Autor dichte Rekonstruktionen wissenschaftlicher Erkenntnisinteressen, die in verschiedenen institutionellen Bahnen und Netzwerken realisiert worden sind, auch mit politischen Ambitionen teils locker, teils fester verbandelt waren, was nicht erst im und durch den Ersten Weltkrieg, sondern schon viel früher im Zusammenhang mit dem langen Siechtum der Osmanischen Herrschaft sichtbar wurde. Bisweilen hätte man sich ein paar anschauliche Geschichten in der Geschichte gewünscht, um den hier und da recht abstrakten, trockenen Duktus der Arbeit aufzulockern. Vielleicht aber gab das konsultierte Material dergleichen nicht her, vielleicht auch wäre dadurch die szientifische Strenge des gewählten Ansatzes in unerwünschte Kollisionen mit dem Leben geraten.

Anmerkungen
1 Kohn, Hans, Zur Araberfrage, in: Ders., Nationalismus. Über die Bedeutung des Nationalismus im Judentum und in der Gegenwart, Wien 1922, S. 61-67, hier S. 61, 65.
2 Ders., Die Europäisierung des Orients, Berlin 1934; vgl. auch Kohns Memoiren: Bürger vieler Welten. Ein Leben im Zeitalter der Weltrevolution, Frauenfeld 1965, S. 172.
3 Liechtenstein, Hans, Ausgrabungen und Funde, in: Jüdisches Lexikon, Bd. 1, Berlin 1927, Sp. 577-583, hier Sp. 583.
4 Gemeint ist hier: Halbwachs, Maurice, La topographie légendaire des évangiles en Terre Sainte. Étude de mémoire collective, Paris 1941.